Konfliktwahrnehmung

Veröffentlicht am 18. April 2025 um 20:15

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

heute möchte ich Ihnen die Prozesse näherbringen, welche in Konflikten ablaufen und zu deren Eskalation beitragen – und wie Sie diesen Konflikten/Eskalationen mit mehr Verständnis und konstruktivem Handeln begegnen können.

Konflikte entstehen, wenn gegensätzliche Wünsche, Werte, Einstellungen oder Interessen aufeinandertreffen. Doch Gegensätze allein verursachen keinen Konflikt – sie können auch Motor für Entwicklungen sein, wie das Zusammenspiel von Ein- und Ausatmen oder von Leben und Tod zeigt. Entscheidend ist der Umgang mit Gegensätzen. Wir alle sind geprägt durch Erziehung, Erfahrungen und kulturelle Einflüsse. Diese Vielfalt führt zu unterschiedlichen Sichtweisen, Handlungsmustern und emotionalen Reaktionen – und damit zu einzigartigen Konflikten. Und genauso wie jedes Individuum einzigartig ist, ist auch jeder Konflikt individuell und einzigartig.

„Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“

Unsere erlernten Reaktionsmuster entscheiden, ob wir in Konflikten eskalieren oder konstruktiv bleiben. Konflikte rufen Emotionen in uns hervor – von Gereiztheit bis zur Angst – und fordern uns zu einer Reaktion auf. Wir entwickeln Strategien, um Spannungen zu lösen – oder zu vermeiden. Allzu oft wird dabei der Konflikt durch Ausweitung auf andere Themen oder Personen nur noch komplexer.

Wir unterscheiden in diesem Kontext verschiedene Konflikttypen:

  • Sachkonflikt – unterschiedliche Sichtweisen zu Inhalten oder Entscheidungen,
  • Beziehungskonflikt – zwischenmenschliche Spannungen,  
  • Wertekonflikt – divergierende moralische Überzeugungen,
  • Interessenkonflikt – gegensätzliche Bedürfnisse oder Ziele,  
  • Rollenkonflikt – unklare oder widersprüchliche Erwartungen an eine Rolle,  
  • Verteilungskonflikt – Streit um knappe Ressourcen,  
  • Machtkonflikt – Kampf um Einfluss und Kontrolle,  
  • Identitätskonflikt – Bedrohung des Selbstbilds oder Zugehörigkeitsgefühls und  
  • Verdeckter Konflikt – unterschwellige, unausgesprochene Spannungen.  


Diese Aufzählung macht deutlich, dass Konflikte nicht nur durch Sachinhalte entstehen, sondern stark durch unsere Wahrnehmung und deren kognitive Verzerrungen, wie dem Bestätigungsfehler, beeinflusst sind. 
Wir Menschen neigen dazu, Informationen so zu deuten, dass sie unsere bestehenden Überzeugungen stützen. Andere Sichtweisen werden als falsch, bedrohlich oder unlogisch empfunden.
Das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit verstärkt diesen Mechanismus: Wer eine andere Sichtweise zulässt, muss möglicherweise sein Weltbild hinterfragen – das empfinden viele Menschen als Unsicherheit oder Kontrollverlust. So verengen sich Denken und Wahrnehmung immer stärker auf die eigene Position.

Dies ist jedoch bedingt nötig!

Denn um die Bildung unseres Weltbildes, unseres Ichs zu verstehen, brauchen wir zwangsläufig den Spiegel des Anderen – denn nur so erfahren wir, wer, wie oder was wir nicht sein wollen. Erst durch die Auseinandersetzung mit dem, was wir ablehnen, erkennen wir klarer, was wir selbst wollen, wer wir sein möchten – und wer nicht.
Dieser Prozess, welcher zumeist innerhalb von Konfliktsituationen auftritt, ist nicht rein rational: Er braucht eine gewisse emotionale Aufladung, einen inneren Impuls, der uns bewegt.

Inmitten gesellschaftlicher Erwartungen und Normalitätsvorstellungen, formen wir dabei unser Selbst oft durch Abgrenzung – durch das „Nicht-Sein“ zum anderen. Unser Ich entsteht in der Entfremdung zum Gegenüber. Es ist wie ein Ball, der bei jedem Aufprall – bei jeder Konfrontation – ein Stück näher an sein eigenes Wesen herankommt. Zwischen den Aufprällen kann der Mensch Momente der Freiheit erleben, in denen er seiner gewollten Identität am nächsten ist – solange, bis der nächste Aufprall (Konflikt) erneut den Kontrast zwischen „sein wollen“ und „nicht sein wollen“ verdeutlicht.

Typisch für Konflikte, welche jedoch eskalieren können, ist, dass:

  • die Aufmerksamkeit sich nur noch auf Bedrohungen konzentriert,
  • negative Eigenschaften des Gegenübers überbetont- und positive ausgeblendet werden,  
  • zeitliche Abläufe verzerrt wahrgenommen und vereinfacht dargestellt werden,
  • Schwarz-Weiß-Denken und Verallgemeinerungen dominieren und
  • die eigene Meinung als alleinige Wahrheit gesehen wird. 

 

Diese Prozesse führen fatalerweise dazu, dass die tatsächliche Person hinter dem Konfliktbild nicht mehr erkannt wird. Selbst die Reflexion mit Dritten wird schwierig, da sie schnell als „befreundet“ oder „feindlich“ kategorisiert werden – je nach Übereinstimmung mit dem eigenen Bild (sozialer Konstruktivismus und symbolischer Interaktionismus).

Doch auch die emotionale Ebene verändert sich: Eine anfangs empfundene Ambivalenz wird verdrängt. Positive Gefühle gegenüber der Konfliktperson werden geleugnet, um Klarheit und Sicherheit für die individuelle konstruierte Konfliktwirklichkeit zu erzeugen. So verlieren wir Einfühlungsvermögen und Mitgefühl – welche zentrale Bausteine jeder konstruktiven Lösung sind.
Eine Lösung kann hier die Wiederherstellung von Mitgefühl sein. Dazu muss jedoch die eigene Einseitigkeit überwunden- und die Gegenseite wieder als Mensch mit nachvollziehbaren Bedürfnissen gesehen werden – etwa durch das Bewusstsein gemeinsamer Ziele, wie Teamarbeit oder Unternehmenserfolg – da in zugespitzten Konflikten beide Seiten ihre Ziele mit Nachdruck durchsetzen wollen.
Hierbei ist eine schnelle Wahrnehmung und Bearbeitung des Konfliktes- sowie die Akzeptanz der intersubjektiven konstruierten Realität der Gegenseite entscheidend. Denn je länger der Konflikt andauert, desto stärker verfestigen sich Muster – bis hin zu instinktiven Reaktionen, welche tief in Kindheit und Entwicklung verankert sind (in der Psychoanalyse: Regression). Rückfälle in kindliche oder destruktive Verhaltensweisen wie Trotz oder sogar Aggression können hierbei die Folge sein. Die Vielfalt unseres Verhaltens wird dadurch stark eingeschränkt, sowie unser Denken und Fühlen verengt.
In dieser Phase äußern wir uns oft verletzend, ohne es zu merken. Was wir sagen, wirkt hart, übertrieben oder unfair – nicht mehr im Einklang mit unserem eigentlichen Wesen und der damit zusammenhängenden konstruierten Wirklichkeit. Dadurch verhärten sich die Fronten weiter.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die „Hammer-Geschichte" von Paul Watzlawick:

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat jedoch einen. Also beschließt unser Mann, zum Nachbarn zu gehen und sich den Hammer auszuborgen. Da kommen ihm Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann an: "Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!"*

Diese kurze aber beschreibende Anekdote zeigt, wie schnell wir Konflikte konstruieren, wenn wir ausschließlich in unserem inneren Weltbild – unserer konstruierten Wirklichkeit – gefangen bleiben.
Der zugrunde liegende Trugschluss, welcher hier vorherrscht, lautet: „Alle müssten doch so denken wie ich!“
Denn für uns gibt es nur eine einzig richtige wahre Wirklichkeit – die unsere. Diese Wirklichkeit verteidigen wir, um die Sicherheit unseres Selbstbildes zu gewährleisten.
Doch gerade darin liegt auch ein Ausweg. Wenn wir erkennen, dass jeder Mensch ein einzigartiges konstruiertes System aus Erfahrungen, Werten und Sichtweisen mitbringt, kann Verständnis entstehen. Individuelle Perspektiven werden damit zu Chancen. Denn wenn wir sie nutzen, kann ein Konflikt zur Quelle kreativer Lösungen werden.
In einem konstruktiven Umgang mit Differenzen liegen Entwicklungsmöglichkeiten. Unterschiede machen Bedürfnisse sichtbar und ermöglichen dadurch Veränderungen. Auf dieser Basis lassen sich tragfähige Lösungen finden, die für beide Seiten akzeptabel sind.

Konflikte stellen damit kein Ende- sondern einen möglichen Anfang dar. Intersubjektive Konstruktionen der Wirklichkeit (unterschiedliche Sichtweisen/Perspektiven auf die Dinge) eröffnen Potenziale, um Beziehungen zu vertiefen, Missverständnisse zu klären und gemeinsam zu wachsen. Voraussetzung dafür ist, dass wir die Realität und die Anwesenheit intersubjektiver konstruierter Wirklichkeiten akzeptieren- und wir uns auf diese unterschiedlichen Sichtweisen einlassen können.

Dies setzt ebenfalls voraus, dass die eigene konstruierte Wirklichkeit mit ihren Denk- und Handlungsmustern reflektiert- und die Individualität unseres Gegenübers nicht als Bedrohung- sondern als Bereicherung verstanden wird.

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